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Die erste Seite aus dem unfertigen Entwurf eines Entwurfes

  • Autorenbild: Habetrot
    Habetrot
  • 14. Sept.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Sept.

Anfang des Jahres begann ich mein neues Projekt. Seither schrieb ich fast 200 Seiten, löschte sie wieder, verfasste sie neu, plante um und kürzte erneut. Trotz der investierten Zeit und sorgfältiger Planung bin ich beim ersten Entwurf höchstens im ersten Viertel angelangt. Ständig entstehen neue Ideen, die vorangegangene Ereignisse beeinflussen und mich um mehrere Seiten zurückwerfen.

Seltsamerweise frustriert mich das nicht. Im Gegenteil: Es fühlt sich an, als ob meine Geschichte, meine Welt und meine Figuren an Tiefe gewinnen und an Leben. Während die Geschichte immer dichter wird, verfestigt sich auch der Boden, auf dem ich immer sichereren Tritt finde und immer geschickter meinen Weg durch diese Welt bahne.

Die erste Seite schrieb ich in dieser Zeit etwa sechsmal um. Die Szene blieb jedoch im Kern dieselbe: Wir sehen Tamara beim Tarotkartenlesen.

Möchtest du einen ersten Eindruck bekommen? Hier ist die erste Seite aus meinem Roman:


Die altmodische Öllampe auf Tamaras Tisch liess einen flackernden Lichtschein auf die Tarotkarten vor ihr fallen. Hier im Turm verzichtete sie bewusst auf die sonst allgegenwärtigen erenischen Lampen und ihr ruhiges, magisches Licht. Die tanzende Flamme aber liess die Bilder auf den vier Karten beinahe lebendig wirken. Acht der Stäbe, Sechs der Schwerter, der Tod und der Ritter der Schwerter. Langsam stellte sich das wohlbekannte Schaudern ein und sie schloss die Augen. Die Vision kam in verschwommenen Farbklecksen. Sie drehten sich, tanzten umeinander und setzten sich zögerlich zu einem Ganzen zusammen. Sie beruhigte ihren Atem und befahl ihrem Verstand, sich zu entspannen. Und allmählich wurde das Bild vor ihr scharf.

Sie erkannte eine schwarzhaarige Frau von hinten. Sie war gross, trug einen unauffälligen halblangen Mantel und praktische blaue Hosen in einem festen Stoff. Sie öffnete eben die Glastür zu einem Gebäude mit Büchern in der Auslage. Eine Bibliothek oder ein Buchladen. Tamara folgte der Frau, wie sie durch den grossen Raum lief und bei der Treppe einen Schalter betätigte, der das Licht aktivierte. Die Tür wurde wieder geöffnet und eine zweite Frau betrat den Laden. Die Schwarzhaarige drehte sich um und Tamara konnte erkennen, wie ihr Gesicht sich aufhellte. Die beiden Frauen umarmten sich kurz und verschwanden dann, plaudernd durch eine Tür in den hinteren Teil. Die Vision erlaubte ihr nicht mehr, ihnen zu folgen. Stattdessen verblasste das Bild der halboffenen Tür vor ihren Augen.

Sie lehnte sich ärgerlich im Sessel zurück und spürte, wie ihr Herz gegen die Rippen hämmerte. Tamara, die mächtigste Seherin von Erenien, liess sich vor Aufregung aus einer Vision reissen? Wie eine blutige Anfängerin? Sie schob die Brille mit einer hastigen Bewegung über die Stirn in ihre weissen Haare und sammelte die Tarotkarten wieder ein.

Sie sollte nachsichtiger mit sich sein. Seit Jahren hatte sie keinen Blick in die Anderwelt werfen können. Aber ihre Gedanken, wie ihr Herz, rasten weiter. Endlich erlaubte sie sich, das Wort auszusprechen.

"Zwischengängerin."

Sabi und Ben schreckten mit einem scharfen Schnauben hoch. Das Parkett knarrte unter ihren massigen Körpern, als sie sich von ihrem Platz an der Tür erhoben. Tamara hörte ihre schweren Schritte näher kommen. Ben erschien zuerst auf ihrer linken Seite, sein gefleckter Leopardenkopf auf Höhe ihrer Schulter. Dann schob sich Sabis riesige getigerte Pfote behutsam auf ihren Schoss, warm und schwer wie ein Anker.

Das Wort hing nun zwischen ihnen im Raum, verheissungsvoll und unwiderruflich.


Was denkst du? Würdest du weiterlesen wollen?


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Habetrot


ree

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